Warten auf den Wal

Dass Fähren weder Scampi-Kreuzer noch Wal-Safari-Boote sind, die zuvor ein Flächenradarflugzeug losgeschickt haben, um die spektakulärsten Meeressäuger gezielt anzusteuern, dürfte jedem halbwegs gebildeten Menschen normalerweise klar sein. Hin und wieder kommen einem allerdings so seine Zweifel.

Fährfahrt
Walbeobachter in Wartestellung

Es geht beim Reisen auf einer Fähre einfach darum, gezielt über Wasser von A nach B zu kommen. Da in Patagonien viel Meer, Inseln und Berge die Topographie bestimmen, werden gewisse Wege sinnvollerweise, falls man mehr als 20 Kilo im Gepäck hat, zu Wasser zurück gelegt. Für alle anderen Anderen, auf die diese Kiloregel nicht zutrifft, macht das Reisen im Flugzeug aus rein rationellen Gründen mehr Sinn.

Rein emotional gesehen sieht das beim westlichen Touristen allerdings etwas anders aus. Die Motivation, sich auf eine viertägige Fährfahrt durch die patagonischen Fjorde und den Pazifik mit einem Rollkoffer oder Rucksack einzulassen, ist äußerst komplex. Es ist eine Mischung aus endlich mal auf einem Schiff reisen, Wasserfälle, unberührte Berge und Inseln zu entdecken, Patagonien zu begreifen sowie Wale und anderes Meeresgetier zu sehen.

Das lässt sich der Tourist auch gerne eine Stange Geld kosten. Eine Doppelzimmerkabine mit Fenster und mensaesker Vollverpflegung beläuft sich auf schlappe 2.000 US-Dollar. Die Billigvariante mit vier Leuten in einer Kabine ohne Guckloch nach draußen, ist jedoch schon für die Hälfte zu haben.

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Zimmer mit Aussicht

Die Traumschiffanwandlungen einzelner ZDF-affiner rüstigen Rentner sind schnell verflogen. „Wegen der Zimmer haben wir diese Fahrt wohl nicht gebucht“, schallt es leicht pikiert aus einer der fensterlosen Kabinen eines sich traumverwirklichenwollenden deutschen Rollkofferpärchens. Auch die 40-jährige eiserne Lady Namens Evangelista ist schon etwas in die Jahre gekommen und soll laut unseres spaßigen deutschchilenischen Passagierverantwortlichen Persie noch zwei Jahre durchhalten. Eine neue Fähre ist bereits im Bau.

Ein komplett outdoorklamottendurchgestyltes US-amerikanisches Pärchen um die 30 Jahre, das auf dem Oberdeck wohl eine Sumpflandschaft mit angeschlossenem Klettergarten vermutet hätte, stellt bei der Sicherheitseinweisung von Persie die Frage, ob es denn auch WLAN auf dem 128 Meter langen Kahn gäbe. Die Antwort fällt eher nüchtern aus: Nein! Selbst eine Mobiltelefonverbindung gibt es die kommenden Tage nicht. Bäm! Die Outdoorabendteuerlandgeneration der backpackenden Mittelschichtler steht auf einmal für eine halbe Woche ohne Facebook-Verbindung zur Außenwelt da. Panikschweiß!

So langsam dämmert es dem ein oder anderen Pärchen – mehrtägige Sightseeing-Schiffsreisen werden fast ausschließlich von Pärchen gebucht – dass man ein Haufen Geld für Jugendherbergkomfort auf einem ordinären Fährschiff ausgegeben hat, mit dem kleinen Unterschied, dass hier niemand aus der Jugendherberge herauskommt und einfach mal einen Berg besteigen kann, geschweige denn über die sozialen Medien posten kann wie frei, ungebunden und toll man reist. Außerdem sind auf dem gesamten Schiff keine alkoholischen Getränke erlaubt, so dass selbst sozial geduldetes gepflegtes Betrinken keine Option ist, es sei denn man tut es heimlich in seiner Kabine, wie zu früheren Schulzeiten in der Jugendherberge.

Deshalb hat Navimag, der Anbieter der Schiffsfahrt, den Passagierverantwortlichen namens Persie engagiert, der mit Vorträgen über Flora und Fauna, lustigen Ansagen und viel Herzblut das Klientel drei volle Tage bei Laune halten soll. Anfangs gelingt dies auch. Alle sind gut drauf beim schippern durch die engen Fjorde Patagoniens. Es gibt auf dem Oberdeck bei recht angenehmen Wetter viel zu sehen. Gletscher, unberührte Berge, Wasserfälle, ein Paar aufgeregte Enten und einen Delfin. Es gibt aber auch fast immer das gleiche zu sehen: Gletscher, unberührte Berge, Wasserfälle und ein paar aufgeregte Enten. Persie versichert aber, dass auf jeden Fall noch Wale zu sehen sein würden.

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Es gibt was zu sehen wenn die Gore-Tex-Dichte auf dem Oberdeck zunimmt.

Dies führt dazu, dass der abenteuerwütige Outdoorakademiker nicht so recht weiß, was er mit seiner vielen Zeit anfangen soll. So werden die Gore-Tex-Jacken in allen Regenbogenfarben aufgeregt über das Ober-, Mittel- und Unterdeck spazieren getragen, man könnte ja was verpassen, vielleicht sogar einen Wal. Noch werden die mitreisenden Chilenen, die mehr als 20 Kilo von Puerto Natales nach Puerto Montt transportieren müssen, verständnislos angeschaut, weil sie es sich vor der Schiffsglotze gemütlich gemacht haben und sich die nächsten drei Tage bis auf die Essenszeiten von dort auch nicht wegbewegen.

Am zweiten Tag bewegt sich die Evangelista aus dem ruhigen Fahrwasser der Fjorde ohne Walsichtung auf das offene Meer hinaus. Die soziale Gruppe der rüstigen Rentner hat sich weitestgehend auf die gegebenen Bedingungen eingestellt und sitzt auf dem Oberdeck im holzvertäfelten Aufenthaltsraum mit Charm der 80er-Jahre mit Buch oder Sudoku herum. Dagegen braucht die Facebook-Generation ein bisschen mehr Zeit und trägt weiterhin ihre Vibram besohlten Wanderschuhe hektisch über das Oberdeck auf der Suche nach dem Wal spazieren – erfolglos.

Seitdem der offene Pazifik erreicht worden ist, hat der Seegang dramatisch zugenommen. Sechs bis sieben Windstärken donnern den Passagieren auf dem Oberdeck ins Gesicht. Jetzt wo erstmals die 500 Euro teuren Gore-Tex-Jacken ihren Zweck erfüllen könnten, verzieht sich das inzwischen etwas bleich um die Nase gewordene Outdoorklientel lieber ins Schiffsinnere. Albatrosse tanzen draußen mit zweieinhalbmeter Spannweite im Wind, im inneren der Evangelista wird erfolglos gegen die Seekrankheit angekämpft. Im Aufenthaltsraum wird die erste Tüte mit Halbverdautem befüllt. In die Jahre gekommene Schiffsfähren pflügen nunmal nicht wie die Queen Mary 2 durch den Pazifik, sie ‚tanzen’ mit durchschnittlich 20 Stundenkilometern ihrem Ziel entgegen.

Der Wind nimmt glücklicherweise etwas ab, der Wellengang aber nicht. Und dann kommt die unweigerlich elektrisierende Durchsage von der Brücke, dass Fontänen von Walen zu sehen sind. Innerhalb weniger Minuten ist der Bugbereich des Oberdecks mit 80 Walbeobachtern und mindestens so vielen Digitalkameras überfüllt. Während nun ein Wal-Beobachtungsboot seine Geschwindigkeit drosseln und versuchen würde, sich langsam den Walen zu nähern, haben Fähren das Ziel, sich auf einer festgelegten Navigationsroute so schnell als möglich dem Zielhafen zu nähern. Da muss der Wal schon zum Schiff kommen und nicht umgekehrt. Das tut er aber nur halbherzig. Die sechsköpfige Gruppe Minke-Wale, die bis zu acht Meter lang werden, ist etwa drei bis fünf Minuten lang aus etwa 100 Metern zu beobachten, dann ist sie wieder weg. Trotzdem glühen die Kamerachips nach den drei Minuten. Terrabite mit viel Pazifik und wenig Wal, die bald den Weg ins Netz finden werden. Dieses Schauspiel findet an diesem Tag noch ein weiteres Mal statt, mit dem Unterschied, dass die Distanz zum Wal 200 Meter beträgt. Es gibt Spaghetti Bolognese zum Abendessen, die aber nicht alle genießen können. Die chilenischen Fernsehenden, die sich die Pasta schmecken lassen, schauen die gequälten Minen des touristischen Klientels, das mit einem Mensatablett durch den Essensraum torkelt, verständnislos an.

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Ruhe kehrt wieder ein.

Am dritten Tag ist alles ruhig. Nach einer Nacht des Schaukelns und Tanzens steuert die Fähre in ruhigeres Gewässer. Nun haben alle ihre Outdoorjacken und -schuhe ausgezogen, lesen, unterhalten sich oder schreiben in ihr ökologisch nachhaltiges ledergebundenes Reisetagebuch die Erlebnisse der letzten Tage.

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